Salvador bei Tag.
Wir wohnen im Stadtteil Saude, auf deutsch Gesundheit (oder auch Prost!), ein Ort, an dem früher die reichen Plantagenbesitzer ihre Sommerfrische verbrachten. Die Herrenhäuser auf den Plantagen waren eher zweckmäßig, doch hier wurde residiert. Im 17./18. Jahrhundert war Salvador die reichste Stadt der Welt, Zucker wurde mit Gold aufgewogen und so kam es, dass Salvador als Handelszentrum und zeitweise Hauptstadt Brasiliens zu einem Ort von außergewöhnlicher Schönheit kreiert wurde. Der Charme dieser verblassenden Pracht ist hier auf Schritt und Tritt zu entdecken.
Es ist nicht weit bis ins Pelourinho, an der ersten Barockkirche wenige Meter von der Poussada entfernt scharf links abbiegen, das überaus steile, kopfsteinbepflasterte Sträßchen hinunter, sich über die in brasilianischer Manier befahrenen Einbahnstraße retten (gar nicht so einfach, wie es sich anhören mag), auf der anderen Seite das steile Gässchen wieder bergangestiegen, befinden wir uns im berühmten Altstadtkern Salvadors. Noch sind die meisten Läden geschlossen, ein paar fliegende Händler befinden sich auf dem Largo do Pelourinho, die ersten Bahaianas in ihren weitausladenden weißen Trachten, die selbstgemachten Spezialitäten in Tücher eingeschlagen auf dem Kopf balancierend, schreiten vorbei an den in allen Pastellfarben getünchten Häusern. Sie wirken wie fleischgewordene breithüftige und runde Nanas der Nicki de St. Phalle. Der Ort erwacht und noch ahnt man erst die Klänge und die Farben, ohne sie schon in ihrer Fülle zu erleben.
Obrigada - danke -ist das Wort, das wir am meisten gebrauchen, das sich am schnellsten aus dem fremdartigen Sprachgefüge herausschält und einprägt. Obrigada wird gesagt für eine Gefälligkeit, doch ebenso als abwehrendes Nein danke, und dazu haben wir jede Menge Gelegenheit. Neben den Bahaianas, den fliegenden Händlern mit ihrem Tand, begegnen uns alle paar Meter Wasserverkäufer und Kokoswasserverkäufer. Den frischen, gekühlten Saft der Kokosnuss zu trinken ist allerdings ein besonderes Vergnügen, denn die Temperaturen des brasilianischenWinters treiben uns schon jetzt am Morgen die Schweißperlen auf die Stirn.
Salvador bei Nacht
Der schon am Tag begangene Weg wirkt neu, genauso wie das frühe, warme Dunkel. Ein Zustand, den wir in Mitteleuropa, nördlich des Äquators so nicht kennen. Alles ist weicher gezeichnet, der elende Zustand von vielen Gebäuden wird in gnädigen Licht- und Schattenspielen verborgen. Hans Bönisch hatte uns ans Herz gelegt, nur den Hinweg zum Pelourinho zu Fuß zu gehen, den Rückweg nach 20 Uhr sollten wir unbedingt mit einem Taxi zurücklegen. Die dunklen Ecken werden gefährlich, wenn die Gassen unbelebter werden. Doch zuerst einmal genießen wir, die Blicke in die erleuchteten Fenster und Türen, die Mischung aus menschlichen Stimmen und rhythmischer, mitreisender Musik, ein Sammelsurium an Lebendigkeit und Leidenschaft. Wir tauchen ein in das Charisma der bahaianischen Lebensart.
Als Auftakt ein Caipirinha. Bahaianische Köstlichkeiten in der lauen Nacht, während wir das bunte Treiben vor uns beobachten, im Hintergrund Gitarrenklänge und eine sanfte, melancholische Männerstimme. Viel mehr noch als am Tag fühlen wir uns hineingenommen in die fremde, aufregende Atmosphäre die uns umhüllt. Plötzlich tauchen zwei hungrige, große Augen auf, in einem kleinen Gesicht, über einem schmalen Körper der ganz verdreht vor uns steht, der Junge streckt uns bittend seine schmutzige Hand, die Finger wie zu Krallen krümmt, entgegen. Ich bin zutiefst erschüttert, und erstarrt in der unerwarteten Begegnung. Gedanken wirbeln durch meinen Kopf, keinen den ich richtig greifen könnte, weiß nicht, was ich tun soll. Darf ich diesem elenden kleinen Kerl etwas geben, soll ich ihn ignorieren. Erst als Isabella die Situation erkennt und ihn anspricht, löst sich der Bann. Sie lässt die Essensreste für ihn einpacken, kann in ihrer Sprache für den Jungen eintreten, ihm für den Abend einen vollen Bauch verschaffen, vielleicht auch einige Züge aus der Klebstoffflasche, denn die Kellnerinnen vermuten, dass er das Essen gleich wieder versetzen wird um an seine Suchtstoffe zu kommen. Ist das wichtig? Sie konnte ihm in seinem kleinen, traurigen Abend einen kurzen Glücksmoment bescheren. Ich kann meine Tränen nicht zurückhalten.
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